Bauer sucht Arzt
Herausforderung ländliche Gesundheitsversorgung
Der Beruf des Landarztes hat an Attraktivität verloren. Schon heute bestehen gravierende Lücken in der ärztlichen Versorgung ländlicher Regionen. Ohne gesundheitspolitisches Umdenken und kluge kommunale Konzepte droht vielen Patienten künftig eine folgenschwere Unterversorgung. Für niedergelassene Ärzte spielt es eine zentrale Rolle, ihr Gewicht bei der Beseitigung dieser Engpässe in die Waagschale zu werfen.
Von Olaf Hillenbrand
Landarzt – kaum ein anderer Heilberuf wird in Deutschland stärker romantisiert. Fest verankert in die Dorfgemeinschaft, hoch geachtet und mit enger Patientenbindung geht der glückliche Doktor in idyllischer Umgebung anständig bezahlt seiner Berufung nach. In seiner Freizeit pflegt er seine Hobbys und genießt die Ruhe um sich. Ein grobes Zerrbild: Denn die Arztpraxis auf dem Land ist für Mediziner alles andere als attraktiv. Gerade junge Ärzte stören sich bei der Wahl ihres Niederlassungsortes an schlechter Infrastruktur, fehlenden Schulen, mangelnden kulturellen Einrichtungen sowie mangelnden Arbeitsmöglichkeiten für ihre Partner. Zusätzlich machen lange Wege und Bereitschaftsdienste die Arbeit zum Knochenjob praktisch rund um die Uhr, der kaum ein normales Familienleben mehr erlaubt. Und als ob das nicht genug wäre, steht den hohen Investitionen in eine Landpraxis eine alternde, multimorbide Bevölkerung mit wenigen Privatpatienten gegenüber – empfindlich eingeschränkte Verdienstmöglichkeiten im Vergleich zu städtischen Praxen sind die Folge.
Es verwundert daher kaum, dass in den vergangenen Jahren immer mehr Lücken in der ärztlichen Versorgung auf dem Land aufreißen. Gerade älteren Menschen droht eine Versorgungskatastrophe; und ohne den Arzt in der Nähe verschlechtert sich die Infrastrukturausstattung eines Ortes und damit seine Attraktivität für Unternehmen und junge Familien weiter.
Ärztemangel, Ärzteschwemme – versagt die Selbstverwaltung?
Während die ärztliche Versorgung auf dem Land schwindet, ist die Zahl der Ärzte in Deutschland in den vergangenen Jahren beständig gestiegen. Entsprechend kontrovers wird in der Politik über die Lösung dieses Paradoxons gestritten. So erntete Gesundheitsminister Rösler prompt Widerspruch, als er vorschlug, den Numerus clausus zu lockern sowie die Anzahl der Medizin-Studienplätze zu erhöhen. Im Prinzip seien genügend Mediziner vorhanden – sie seien nur falsch verteilt. Tatsächlich setzen gerade Jungmediziner andere Prioritäten als früher. Nach Daten des Hartmannbundes arbeiten nur etwa 60 Prozent aller Medizin-Absolventen als Arzt in Deutschland. Gleichzeitig sinkt unter den Vertragsärzten die Quote der Allgemeinmediziner. Auch die fortschreitende Feminisierung der Medizin – über 60 % aller Studienanfänger sind Frauen – beeinflusst die Strukturen. Der Bedarf an familienfreundlichen Arbeitsbedingungen, nach klar geregelten Anstellungsverhältnissen ohne eigenes finanzielles Risiko steigt. Im Resultat zieht es die niederlassungswilligen Allgemeinmediziner in die für sie finanziell und persönlich attraktiven Städte. Die Folgen für die Versorgung der Patienten bleiben nicht aus. In den kommenden zehn Jahren werden mehr als 40.000 niedergelassene Mediziner in Deutschland ihre Praxistüren schließen. Viele suchen bereits heute händeringend nach Nachfolgern.
Angesichts der Wucht dieser Strukturveränderungen sind die mit der Verteilung der Arztsitze betrauten KV zunehmend überfordert die lückenlose ärztliche Versorgung zu garantieren. Eher auf die Regulierung einer Überversorgung ausgerichtet, mangelt es dem Selbstverwaltungssystem bisher an geeigneten Instrumenten und Anreizstrukturen. Darüber hinaus fordern gesellschaftliche und demografische Verschiebungen Weichenstellungen in sämtlichen Bereichen des Gesundheitssystems. Akute Mangelsituationen in ländlichen Gebieten und Regionen haben zuerst Kommunal-, später Landes- und Bundespolitiker unter Druck gesetzt. In der Folge ist das Problembewusstsein unter den Gesundheitspolitikern erheblich angestiegen. Etwa vereinbarte die hessische Landesregierung in ihrem Koalitionsvertrag die Schaffung eines „Konzepts zur Sicherstellung der flächendeckenden ambulanten Versorgung“.
Aufgabe auf mehreren Ebenen
Dem konkreten Mangel auf der einen Seite steht eine komplexe Aufgabe mit einer Vielzahl von Spielern gegenüber. Bund, Länder, Kommunen, Krankenkassen, KV, Krankenhäuser, Ärzte und Heilberufe können nur zusammen die Aufgabe der flächendeckenden Gesundheitsversorgung sicherstellen. Dabei ist es zwar prinzipiell ein Vorteil, dass die Problematik und der Handlungsbedarf von allen Seiten erkannt worden ist. Jedoch entsteht aus diesem Problembewusstsein im Geflecht von politischen Interessen, Kostendruck und gesundheitspolitischen Reformnotwendigkeiten nicht automatisch eine vernünftige und schon gar keine schnelle Lösung. Es ist gerade die Vielzahl der Handlungsebenen, die Verbesserungen in der ländlichen Versorgung zur gewaltigen Aufgabe machen:
• Bei der Sicherung des ärztlichen Nachwuchses spielen Bund und Länder die wichtigste Rolle. Im Gespräch sind die Vereinfachung des Zugangs zum Medizinstudium sowie die Ausweitung der Studienplätze. Bereits erprobt werden Startfinanzierungen für Ärzte, die sich in unterversorgten Regionen niederlassen, sowie Stipendien für Medizinstudenten, die sich verpflichten, nach dem Examen als Landarzt zu arbeiten.
• Ohne die grundlegende Steigerung der Berufsattraktivität der Landärzte wird sich die Versorgungslage jedoch kaum verbessern. Im Blickpunkt steht hier vor allem die leistungsgerechte Bezahlung – anstelle rund ein Drittel weniger zu verdienen als in der Stadt, muss der Verdienst künftig eher darüber angesiedelt werden, um Nachteile in Bezug auf die Lebensqualität zu kompensieren. Darüber hinaus müssen Ärzte von nichtärztlichen Tätigkeiten sowie ausufernden Notdienstpflichten entlastet werden, um den Beruf wieder familienverträglicher zu gestalten. Auch soll die Zuweisung von Gebieten die tatsächlichen Gegebenheiten in der Patientenstruktur besser abbilden.
• Der demografische Wandel bei Ärzten und Patienten erfordert künftig eine engere Vernetzung der Ärzte untereinander sowie die stärkere Berücksichtigung von Ärzten, die angestellt arbeiten wollen. Darüber hinaus ist die Verzahnung mit anderen Gesundheitsdienstleistungen erforderlich; denn weniger Ärzte werden mehr Patienten zu versorgen haben. Mobile Krankenschwestern und arztnahe Berufe müssen die noch vorhandenen Ärzte von Routineaufgaben entlasten. Innovative Formen der Zusammenarbeit von Ärzten in Berufsausübungsgemeinschaften, telemedizinische Anwendungen sowie die Verzahnung von ambulanter und stationärer Versorgung werden, besonders in der Notfallversorgung, eine wichtigere Rolle spielen.
• Regionale Lösungen müssen an spezielle lokale Versorgungsengpässe angepasst werden. Innerhalb der regionalen Gesundheitskonferenzen und darüber hinaus gewinnt die besondere Problemlösungskompetenz kommunaler Vertreter an Bedeutung. Wollen sie ihre Region erfolgreich vertreten, müssen sie durch spezielle Ansiedlungsmodelle in Form von Ärztehäusern und Gesundheitszentren attraktive Bedingungen bereitstellen, möglicherweise Fahrdienste für Patienten oder gemeinsam mit Ärzten und arztnahen Berufen neue Lösungen entwickeln.
So schemenhaft und unvollständig dieser Überblick ausfällt, verdeutlicht er doch, dass in den kommenden Jahren in vielerlei Hinsicht die Karten in der regionalen Gesundheitsversorgung neu gemischt werden. Schnelle Gesamtlösungen sind dabei nicht zu erwarten – und dennoch muss die Versorgung der Patienten sichergestellt werden. An neuen Formen der Zusammenarbeit wird dabei kein Weg vorbeiführen. Im wesentlichen kristallisieren sich zwei Modelle heraus: Auf der einen Seite versuchen klinikeigene MVZ die Lücke zu füllen und damit die niedergelassenen Ärzte dauerhaft zu verdrängen. Auf der anderen Seite haben regionale Ärztenetze die Zeichen der Zeit erkannt und Kooperationen entwickelt, die nicht nur echte Notsituationen überbrücken, sondern innovative und genau auf den Mangel zugeschnittene Lösungen bieten und dabei die von allen Seiten gewünschte Arzt-Patient-Bindung in den Mittelpunkt stellen.
Innovative Modellprojekte
Umbruchsituationen sind nicht nur Phasen des Experimentierens, sondern immer auch Zeiten der Weichenstellungen. Denn was sich hier bewährt, wird in aller Regel Bestand haben. In gemeinsamen Gesprächen mit der KV Hessen entwickelt Hessenmed ein Modell, das vorsieht, dass Ärzte freie Arztsitze auf dem Land, für die sich kein Nachfolger finden läst, als Gemeinschaftspraxis neben ihrer eigentlichen Praxis führen können. Das Budget der Ursprungspraxis soll dabei nicht belastet werden. Praktische Beispiele aus den Hessenmed-Netzen zeigen exemplarisch, dass durch Engagement und Kooperation aller Beteiligten innovative lokale und regionale Lösungen erarbeitet werden können:
Im Landkreis Marburg-Biedenkopf bemühen sich Regionalpolitiker, KV sowie die beiden Ärztenetze PriMA und Ärzte der Region gemeinsam darum, dem drohenden Ärztemangel vorzubeugen und dem ärztlichen Nachwuchs ein attraktives Umfeld zu bieten. Um die landärztliche Versorgung zu erhalten, arbeitet PriMa an einem Modell, das die rechtlichen Möglichkeiten von MVZ in ärztlicher Trägerschaft nutzen und verwaiste Arztsitze weiter betreiben soll. Die Versorgung der Patienten übernehmen dabei niedergelassene Ärzte mit Zeitvakanzen sowie Kollegen, die nur tageweise oder in Teilzeit arbeiten wollen. PriMa-Mitglied und Hessenmed-Vorstandsmitglied Dr. Lothar Born hebt bei dem langfristig angelegten Modell das kluge Interimsmanagement hervor: „Gerade jungen Ärzten ist das Risiko einer eigenen Praxis oft zu hoch. Deshalb fungiert die Trägergesellschaft als Schutzschirm. Sie übernimmt das wirtschaftliche Risiko und stellt Ärzte ein, die Erfahrungen sammeln und in die Rolle allmählich hineinwachsen können.“ Auf diese Weise können Praxen und Arztsitze langfristig erhalten und dann, wenn ein Arzt Interesse daran hat, an diesen weitergegeben werden.
Auch im Landkreis Fulda wurde vor zwei Jahren unter reger Beteiligung des Gesundheitsnetzes Osthessen ein runder Tisch geschaffen, um die medizinische Versorgung im ländlichen Raum sicherzustellen. Resultat der Beratungen ist ein Pilotprojekt, das den Bau eines Ärztehauses in der Stadt Tann sowie das Angebot von Außensprechstunden vorsieht. Wie der Erste Kreisbeigeordnete, Dr. Heiko Wingenfeld, hervorhebt, halbiert sich damit die Entfernung der Patienten von der fachärztlichen Versorgung auf rund 15 km. Der Plan sieht vor, dass Tann den Ärzten kostenfrei Räume in einem ehemaligen Krankenhaus zur Verfügung stellt. Insgesamt fünf Fachärzte aus der Region haben sich im Gegenzug bereit erklärt, die ärztliche Versorgung durch bedarfsgerechte Sondersprechstunden langfristig zu sichern und mit den örtlichen Allgemeinmedizinern zu kooperieren. Ein Investor übernimmt die Vorfinanzierung der Umbaumaßnahmen. Das Land Hessen sowie der Landkreis unterstützen und fördern das Projekt. Die Kassenärztliche Vereinigung eruiert Möglichkeiten zur Abrechnung dieser „Sondersprechstunden“.
Am Umbau mitwirken
Mit dem bis Ende des Jahres geplanten Versorgungsgesetz wird 2011 zu einem weiteren Reformjahr der Gesundheitspolitik. Inwieweit dessen ambitionierte Ziele zur ländlichen Gesundheitsversorgung im politischen Prozess umgesetzt werden können, ist noch offen.
Die andauernde Verschlechterung der Berufsbedingungen für Landärzte soll – und muss – korrigiert werden. Denn wenn die KV ihren Auftrag der Sicherung der flächendeckenden medizinischen Versorgung nicht mehr erfüllen kann, dann verändern sich die Rahmenbedingungen – und der Vorrang der ärztlichen Freiberuflichkeit wird irreparabel beschädigt. Insofern ist die aktive Beteiligung der niedergelassenen Ärzte in diesem Prozess unverzichtbar, wenn sie ihre eigene Zukunft sichern wollen. Die anstehenden Reformprozesse werden nur dann nicht zu ihren Lasten ausfallen, wenn es ihnen gelingt, im Verdrängungswettbewerb durch MVZ ihre Interessen zu organisieren und zu vertreten sowie die entscheidenden Vorteile niedergelassener Ärzte praktisch unter Beweis zu stellen.
Infokasten
Versorgungsgesetz
Mit dem geplanten Versorgungsgesetz will die Bundesregierung unter anderem die Leistungen für Kassenpatienten verbessern. Diskutiert werden die Unterbringung in Zweibettzimmern sowie Maßnahmen zur Verkürzung von Wartezeiten bei Fachärzten. Ein weiterer Schwerpunkt ist die medizinische Versorgung von Patienten auf dem Land. Die Entwürfe sehen höhere Honorare für Ärzte in wenig besiedelten Gebieten sowie die Einrichtung mobiler Arzt-Stationen vor. Darüber hinaus wird eine Bedarfsplanung für Arztstellen vorgesehen, die bei der Ermittlung der Arztsitze neben der Einwohnerzahl künftig auch die Altersstruktur der Bevölkerung berücksichtigt. Mehr Transparenz im Gesundheitswesen und eine stärkere Kontrolle der Ärzte soll durch Patientenquittungen erreicht werden. Die Eckpunkte des Versorgungsgesetzes sollen bis Ostern vorgelegt werden. Nach der parlamentarischen Beratung im Sommer soll das Gesetz Anfang 2012 in Kraft treten.
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Eckpunkte zum Versorgungsgesetz.pdf | 312.5 KB |